Sehr geehrte Damen und Herren,
vielleicht sind es ja nur alternative Fakten, die uns zum Eindruck veranlassen, dass die europäische Wirtschaft sich derzeit in einer Breite, einem Tempo und einer Intensität entwickelt, wie viele das nur aus „Vor-Lehman-Zeiten“ in Erinnerung haben. Wo bleibt die disruptive Wahrheit, die uns auf den Boden der Realität zurückholt, was ist mit Brexit, was mit den Auseinandersetzungen um die Krim, was mit Syrienkrieg, IS-Terror und Immigrationschaos, mit protektionistischem Nationalismus und EU-Bashing? Wie verträgt sich das alles mit Wirtschaftswachstum und leisem Optimismus in Sachen „Zukunft Europas“? Verdrängen Unternehmen, Wirtschaftsgurus und ihre Epigonen die politische Realität? Leugnen sie die Fakten?
Wohl nicht, aber sie sehen vielleicht auch andere Entwicklungen, andere Fakten als nur jene, die für einfach zu verkündende Schlagzeilen sorgen. Sie sehen in Europa – möglicherweise bewusster als andere – Länder, die sich ernsthaft bemühen, ihre Finanzen wieder in Ordnung zu bringen, sie sehen steigende Beschäftigung und sinkende Jugendarbeitslosigkeit in immer mehr europäischen Staaten, eine wachsende Investitionsbereitschaft von Unternehmen und Konsumenten, aber auch zunehmend tragfähigere Wirtschaftsstrukturen in den früheren osteuropäischen Ländern, und sie sehen möglicherweise noch einiges mehr. Und da gibt es vielleicht noch etwas, langfristig wichtiger als alles andere, nämlich einen wieder steigenden Glauben an die Zukunft Europas – gestärkt durch Wahlergebnisse, die dies bestätigen oder zumindest zu bestätigen scheinen, und nicht zuletzt auch gestärkt durch immer mehr junge Menschen, in deren Selbstverständnis Europa und nicht irgendein vergleichsweise enger Nationalstaat die Heimat ist.
Es scheint tatsächlich so, dass heute, anders als in der Vergangenheit, insofern eine gewisse Emanzipation der Wirtschaft gegenüber der Politik stattfindet, als politische Probleme nicht mehr gleichsam automatisch wirtschaftliche nach sich ziehen müssen, sich „die Wirtschaft“, die Unternehmen ihr eigenes Bild von der Realität machen und sich dann auch entsprechend verhalten. Das heißt aber – um auf den Beginn zurückzukommen – sicher nicht, alternative Fakten zu schaffen, sondern für sich die Freiheit in Anspruch zu nehmen, verstärkt einen eigenständigen Zugang zur Realität zu entwickeln und auch demgemäß zu handeln. Diese – wenn man so will – zunehmende Eigenständigkeit der Wirtschaft gegenüber der Politik hat aber auch noch eine andere Triebfeder: das Bewusstsein und die Überzeugung, dass nur ein weitgehend geeintes Europa langfristig in der Lage sein wird, seine Interessen sowohl im ökonomischen als auch im geopolitischen Spiel der Kräfte gegenüber den anderen Spielern durchzusetzen. Die Wirtschaft signalisiert mit ihrem Verhalten letztlich, dass politische Risiken und Vorwände per se kein Grund sein sollten, nicht an die Zukunft eines gemeinsamen Europa zu glauben. Es braucht allerdings die richtigen Rahmenbedingungen. Ein Europa, das auch künftig aus einer bloßen Ansammlung von Nationalstaaten besteht, wird am Ende des Tages nicht die notwendige Kraft dafür aufbringen, sie zu schaffen. Ohne Grundkonsens über diese Rahmenbedingungen und damit den langfristigen Weg Europas, der dann auch von allen Beteiligten konsequent gelebt wird, fehlt aber der Wirtschaft das im internationalen Wettbewerb letztlich unverzichtbare Backup eines starken politischen Partners. Dabei geht es gar nicht so sehr um die direkte politische Intervention, sondern einfach darum, dem Bewusstsein des Gegenübers zu signalisieren, dass da mehr ist als ökonomische Kompetenz.
Für die voestalpine bedeutet diese Entwicklung eine Bestätigung der Richtigkeit ihrer Strategie: Europa bleibt bei aller Unsicherheit über die künftigen politischen Rahmenbedingungen wirtschaftliche Heimatbasis unseres Konzerns. Im Interesse einer langfristig möglichst ausgewogenen Verteilung der politischen und wirtschaftlichen Risiken stellt sich die konsequente weitere Internationalisierung aber ohne wirkliche Alternative dar. Ziel muss es aus unserer Sicht am Ende des Tages bleiben, das unternehmerische Risiko je zur Hälfte auf Europa und die übrige Welt aufzuteilen. Wir fühlen uns und den voestalpine-Konzern damit gut aufgehoben.
Linz, 24. Mai 2017
Der Vorstand
Wolfgang Eder
Herbert Eibensteiner
Franz Kainersdorfer
Robert Ottel
Franz Rotter
Peter Schwab
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